Start 4/2022 PASSGENAU FÜR MANN UND FRAU: GENDERMEDIZIN

PASSGENAU FÜR MANN UND FRAU: GENDERMEDIZIN

von Nicole Bichler

FRAUEN HABEN EINE HÖHERE LEBENSERWARTUNG ALS MÄNNER. DAFÜR LEIDEN SIE HÄUFIGER AN DEPRESSIONEN ODER AUTOIMMUNERKRANKUNGEN: BEISPIELE DAFÜR, WIE SICH GESCHLECHTER IN MEDIZINISCHER HINSICHT UNTERSCHEIDEN. MIT DIESEN UNTERSCHIEDEN BEFASST SICH DIE GENDERSENSIBLE MEDIZIN.

Der Begriff „Gender“ steht eigentlich für das soziale Geschlecht, also für Unterschiede in den Geschlechterrollen. Dennoch befasst sich die gendersensible Medizin (kurz: Gendermedizin) mit allen Aspekten des Mann- und Frauseins, auch den biologischen. Und auch wenn das Wort „sensibel“ den Anschein erweckt, dass es dabei eher um Befindlichkeiten oder fein zu erspürende Unterschiede geht, hat dieser Forschungsbereich – auch geschlechtsspezifische Medizin genannt – mit ganz handfesten Problemen zu tun: Teilweise geht es ­sogar um Leben und Tod.

Lebensrettende Forschung: Beispiel Herz

Ein Bereich, wo der gendermedizinische Ansatz Leben retten kann, sind die Herzerkrankungen. Bei Frauen sind die Symptome für einen Herzinfarkt weniger eindeutig als bei Männern, dadurch werden sie häufig nicht als solche erkannt. Anzeichen wie Übelkeit, Rückenschmerzen, Kurzatmigkeit oder Erschöpfung können unterschiedlichste Ursachen ­haben – mit der fatalen Folge, dass ­sie nicht als Warnsignale angesehen und Frauen häufig zu spät behandelt ­werden.

Diese Tatsache war auch einer der ­Auslöser für die Entwicklung der geschlechtsspezifischen Medizin in den Neunzigerjahren. Bis dahin waren medizinische Studien – außer für gynäkologische oder spezielle „Frauenkrankheiten“ – hauptsächlich an Männern durchgeführt ­worden, was zu den falschen Einschätzungen beim Herzinfarkt von Frauen geführt hatte. Ihre Symptome wurden von Ärzten teilweise heruntergespielt oder sogar als „hysterisch“ abgetan.

Die amerikanische Ärztin Bernadine Healy beschrieb 1991 die in Studien aufgedeckten Missstände bei der Behandlung von Frauen unter dem Begriff „Yentl-Syndrom“. In dem namensgebenden Film verkleidet sich eine Frau als Mann, um ein Theologiestudium auf­nehmen zu können. Im Fall des Yentl- Syndroms ging es statt um die optimale Ausbildung um die bestmögliche medizinische Behandlung, die Frauen oftmals verwehrt blieb.

Auch das Immunsystem tickt ­anders

Neben dem Herzen ist das Immunsystem ein weiteres Beispiel für wichtige biologische Unterschiede zwischen den Geschlechtern. Von Autoimmunerkrankungen, wie ­etwa rheumatoider Arthritis, sind Frauen sehr viel häufiger betroffen als Männer – die Kehrseite ihres besser funktionierenden Immunsystems. Dieses schützt sie wiederum effektiver, etwa bei einer Covid-Erkrankung, bei der Männer häufiger mit einem schweren oder sogar tödlichen Verlauf rechnen müssen. Dieser bessere Schutz von Frauen hat nach neueren Forschungen auch mit den doppelt vorhandenen X-Chromosomen zu tun, auf denen wichtige Informationen für das Immunsystem liegen.

Arzneimittel-Kapseln mit Abbildung Mann und Frau

Arzneimittel: mehr Nebenwirkungen bei Frauen

Gleiche Medikamente können bei Männern und Frauen sehr unterschiedlich wirken. So leiden Frauen häufiger an Nebenwirkungen – eine Folge der oft unzureichenden Studienlage bei Medikamenten, wo es teilweise immer noch zu wenige weibliche Testpersonen gibt. Frauen sind durchschnittlich leichter und kleiner als Männer, außerdem leert sich der Magen bei ihnen langsamer. ­Er nimmt die Wirkstoffe also länger auf, wodurch sich die Gesamtdosis eines Medikaments erhöht. Auch hormonelle Schwankungen können die Wirkung von Arzneimitteln beeinflussen.

Ein Medikament, das auf Männer und Frauen völlig unterschiedlich wirkt, ist Aspirin: Bei ­Männern hilft es außer gegen Schmerzen vorbeugend gegen Herzinfarkt, bei Frauen fehlt diese zusätz­liche Wirkung.

Psychologie und ­Lebensführung

Auch in Bezug auf das eigentliche „Gender“, also die erlernten Geschlechterrollen, verhalten sich Männer und Frauen unterschiedlich. Frauen ernähren sich beispielsweise im Schnitt gesünder, ­gehen häufiger zur ärztlichen Vorsorge und sind insgesamt gesundheitsbewusster, auch beim Konsum von Alkohol und Nikotin. Warum ihre Lebenserwartung trotzdem nur vergleichsweise wenig ­höher liegt als die von Männern, ist noch nicht abschließend geklärt.

Die Diagnose von Krankheiten hat ebenfalls mit festgeschriebenen Geschlechter- rollen zu tun. Das könnte erklären, ­warum eine Depression bei zwei- bis dreimal so vielen Frauen wie Männern dia­gnostiziert wird. Angehörige des „starken Geschlechts“ spielen ihre Symptome häufig herunter und werden auch von Ärzten anders wahrgenommen. Im Vergleich zu Frauen wird bei ihnen insgesamt seltener ­eine psychosomatische Diagnose gestellt, dafür werden sie ­häufiger organisch untersucht.

Gendersensibilität im ­Koalitionsvertrag

Um gegen solche Schwächen in der ­medizinischen Versorgung anzugehen und das Bewusstsein für die Unterschiede zwischen den Geschlechtern zu schärfen, ist im Koalitionsvertrag der Bundes­regierung ein Ausbau der Gendermedizin vorgesehen: Sie soll Teil des Medizin­studiums und der Ausbildungen der Gesundheitsberufe werden. Ein Vorhaben, von dem Männer und Frauen gleichermaßen profitieren könnten.

Quellen (u. a.):

Gabriele Kaczmarczyk: Das Geschlecht macht den Unterschied.
Eine Einführung in die Gender-Medizin
https://www.aerztinnenbund.de/downloads/3/FR.Gendermedizin.pdf

Gendermedizin: Definition, Geschichte und Beispiele.
https://www.heilpraxisnet.de/ganzheitliche-medizin/gendermedizin-definition-geschichte-beispiele/

Gender Medizin – eine gerechte Medizin für alle.
https://www.ndr.de/nachrichten/info/Gender-Medizin-eine gerechte-Medizin-fuer-alle,gendermedizin102.html

 

Bildnachweis:
iStock/monkeybusinessimages; Adobe Stock/Mahesh Patil